Schule des Rades

Hermann Keyserling

Prolegomena zur Naturphilosophie

Vorrede

Der Fürstin Herbert Bismarck gewidmet

Der Vortragszyklus, den ich hiermit einer weiteren Öffentlichkeit übergebe, ist der Grundkonzeption und dem allgemeinen Rahmen nach der gleiche, den ich im November 1907 an der Freien Hochschule zu Hamburg abhielt. Und doch werden meine Zuhörer von dazumal, wenn sie diese Blätter zur Hand nehmen, im Gelesenen das Vernommene kaum wiedererkennen. Nicht allein, dass ich heute in der Lage bin, genau zu bestimmen und nachzuweisen, worauf ich vor drei Jahren nur hinweisen konnte, nicht allein, dass es mir nun möglich ist, wirklich zu sagen und auszusprechen, was ich damals nur meinte und sagen wollte: das Gesamtbild ist ein vollkommen anderes geworden, weil das, was meine Gedanken recht eigentlich hervortrieb und von innen her bestimmte, mir erst später vollkommen bewusst geworden ist und somit erst jetzt zum richtunggebenden Momente der Darstellung hat werden können, — ob es gleich von jeher die Seele des Ganzen war. In der ersten Zeit der gewonnenen Klarheit, zugleich des Geblendetseins durch das jüngst erschaute Licht, habe ich viele neue Pläne entworfen, viele neue Ausdrucksformen versucht, denn mich dünkte, das Neue müsse den alten Rahmen sprengen. Nun bin ich aber doch zu diesem zurückgekehrt. Es ist das Eigentümliche eigenwüchsiger Geistesgebilde, dass ihr äußerer Ausdruck Notwendigkeit besitzt, dass sie, so wie sie sein sollen, nur in einer Form ohne Vergewaltigung darzustellen sind. Die Grundkonzeption zeichnet den Plan möglicher Entwicklung vor, und wie ein bestimmter Keim nur zu bestimmter Gestalt erwachsen kann, so vermag auch eine Idee ihrem Schicksal nicht zu entrinnen: je freier sie sich entwickelt, desto treuer erfüllt sie zugleich das in ihr waltende Gesetz. So trage ich denn heute wieder vor, wie ich einstmals zu Hamburg vortrug, im gleichen Stil, in der gleichen Stoff- und Zeiteinteilung, es sind die gleichen Vorträge und sind sie doch wieder nicht, gleichwie das Kind im Manne zugleich erfüllt und aufgehoben erscheint.

Der Sache nach ist die Absicht dieses Buches die folgende: es soll die Grenzen des Gebietes bestimmen, dem kritische Wissenschaft gewachsen ist; es soll den Sinn dieser Grenzen feststellen und dessen, was jenseits derselben liegt. Es ist ein höchster Standpunkt möglich, der den erkennenden Menschen im Zusammenhang der Naturerscheinungen begreift, dessen Aussicht umfassender ist als die aller Standpunkte, die sonst aufgestellt und eingenommen werden können, und der doch nicht schlechter begründet ist als derjenige des großen Kant. Aber von dieser Höhe erweist es sich zugleich mit vollendeter Deutlichkeit, dass der Gesichtskreis der Wissenschaft begrenzt ist. Das, was kritische Philosophie oft genug unternommen hat: die ganze Wirklichkeit begreiflich zu machen, das kann sie nicht zu Ende führen. Sie vermag jedoch Sinn und Grund ihrer Beschränktheit deutlich zu machen, und damit weist sie den Weg über die Grenzen hinaus.

Die Form meiner Darstellung ist bedingt durch meinen Wunsch, selbständigen Geistern beim Selbstdenken behilflich zu sein. Wiederholte Erfahrung hat mich gelehrt, dass die Masse des Stoffes die Assimilation der Substanz behindert, sie hat mich ferner gelehrt, dass es möglich ist, Verständnis vor dem Wissen einzuflößen. Aus der Materie an und für sich ist keine Fragestellung zu gewinnen: daher nützt dem, der diese nicht zu finden weiß, das umfassendste Wissen zu nichts; und wer solches zwar nicht selbständig vermag, aber doch einen aufgezeigten Gesichtspunkt zu erkennen fähig ist, der wird ihn am schwersten gerade dort auffassen, wo er bis ins Letzte ausgeführt erscheint. Man muss schon eine Spur Kantischen Geistes besitzen, um den Meister im Zusammenhange der Kritiken vollkommen zu verstehen, der bloß leidlich Befähigte verliert ob der Masse den Überblick; hätte Kant seine leitenden Ideen auf fünfzig Seiten auseinandergesetzt, er wäre besser und schneller begriffen worden und hätte demzufolge auch schneller und entscheidender gewirkt. Es ist ein offenbarer Fehler, nicht nur werdenden, sondern gerade ausgebildeten Geistern gegenüber, ungewohnte Betrachtungsarten zuerst nicht als solche, sondern in ihrer äußersten Anwendung vorzuweisen. Nichts ist seltener, als die Fähigkeit, die spezifische Problemstellung eines Werkes zu erkennen; wer ein neues Prinzip, um es einzuführen, an der Gesamtheit des einzelnen demonstriert, kann sicher sein, dass es auf Jahre hinaus unerkannt und unbegriffen bleibt. Denn der, welcher keinen eigenen Gesichtspunkt hat, wird sofort von der Masse des Stoffes überwältigt und weiß weder aus noch ein; wer aber selbst einen besitzt, entbehrt gewöhnlich der Fähigkeit, einen anderen einzunehmen, ja eines anderen überhaupt nur gewahr zu werden. Deswegen empfiehlt es sich für den, welcher wirken und fördern will, eine möglichst knappe Darstellungsart zu wählen, bei welcher die Grundgedanken und leitenden Ideen so plastisch herausgearbeitet werden, dass auch der minder Scharfsichtige sie bemerken muss. Hat er sie nun wirklich bemerkt und aufgefasst, dann verschlägt es wenig, dass einzelnes ungesagt und unberücksichtigt blieb, wie wichtig es an sich immer sei: denn nun kann er selbst die Lücken ausfüllen, wer den Gesichtspunkt erstiegen hat, beherrscht dessen ganze Aussicht. Aus diesem Grunde halte ich die Methode der äußersten Konzision auch in pädagogischer Hinsicht für zweckmäßiger als die übliche der breiten Erläuterung — förderlicher zum mindesten auf dem Gebiete der höheren Philosophie. Das ursprüngliche Begriffsvermögen unbefangener Geister ist nämlich größer als allgemein angenommen wird, diese wissen oft einen Standpunkt zu würdigen, dessen Horizont sie nicht übersehen können, und Denkmethoden einzusehen, deren Anwendung über ihre Kräfte geht, weil eben das, was wahrhaft vernunftgemäß ist, von selbst und durch sich selbst überzeugt: es leuchtet so unmittelbar und so selbstverständlich ein wie die Schönheit eines dorischen Tempels. Die Evidenz des Vernunftgemäßen ist aber, wie billig, desto zwingender, je nackter und deutlicher es sich offenbart. Wer nun eine Problemstellung im bezeichneten unmittelbaren Sinne begriff, der fasste sie nicht bloß äußerlich auf, dem bildete es sich innerlich ein, so dass er hinfort verstehen wird, was er noch gar nicht bedacht, und voraussehen, wozu die Anhaltspunkte ihm zu fehlen scheinen. So hoffe ich denn, gerade deswegen im besten Sinne produktiv zu wirken, weil ich die Hauptsachen sehr deutlich ausspreche, das Nebensächliche jedoch nur leicht berühre, weil ich bloß das ausführe, was den Kern des Problems betrifft und mich durchaus an die entscheidenden Züge halte. Man bedenke wohl: im Prinzip liegt alles einzelne beschlossen. Wer dieses erschöpfend zum Ausdruck bringt, der mag von aller Ausgestaltung absehen und hat doch alles gesagt.

Rayküll, im September 1910 Hermann Graf Keyserling
Hermann Keyserling
Prolegomena zur Naturphilosophie · 1910
Vorrede
© 1998- Schule des Rades
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